Auf dem Weg sein – Erfahrungen vom Jakobsweg

Lisa Marie Stangier war Anfang September für eine Woche mit einer kleinen Gruppe unterwegs auf dem Jakobsweg. Wir haben nachgefragt, welche Erfahrungen sie gemacht hat und wie Gehen das sich ständig drehende Gedankenkarussell beruhigen kann und damit die Achtsamkeit stärkt. Außerdem wollte wir von der leidenschaftlichen Coachin wissen, ob das Gehen auch dabei helfen kann, wenn man vor schwierigen Entscheidungen steht.

Auf dem Jakobsweg. Foto: Lisa Marie Stangier
Auf dem Jakobsweg. Foto: Lisa Marie Stangier

Liebe Lisa, du hast dich aufgemacht und bist mit deiner Gruppe ein Stück des Jakobswegs gegangen. Wo genau und wie lange wart ihr unterwegs? Welche Eindrücke hast du mitgenommen?

Wir sind den „Camino Inglés“ gegangen – das ist der sogenannte englische Jakobsweg, der auf 115 Kilometern von Ferrol A Coruña an der Küste im Norden von Galizien nach Santiago de Compostela führt. Wir sind diesen Jakobsweg in sechs Etappen zwischen 15 und 25 Kilometern gelaufen, die sich körperlich, mental und emotional als sehr facetten- und abwechslungsreich entpuppt haben.

Die Eindrücke, die ich gewinnen durfte, sind so vielfältig und wirken nachhaltig – das hätte ich mir weder vorstellen können noch erwarten wollen. Obwohl ich viel Wandererfahrung habe und schon seit Jahren Gruppen, Workshops, Kurse und auch Wochenevents leite und gestalte, war diese Woche neu und anders: intensiver, ehrlicher, schonungsloser, näher, wundersamer, stärkender – in der Beziehung zu mir selbst und in der Co-Kreation mit den anderen. Das und vieles mehr habe ich als Geschenk und Qualität mit nach Hause genommen.

In der Hektik des Alltags ist es herausfordernd, aus dem ständig drehenden „Hamsterrad“ oder dem „Gedankenkarussell“ auszubrechen. Kann das Gehen helfen, die Achtsamkeit zu stärken, um wieder klare Gedanken fassen zu können? Wie lange sollte ein Pilgerweg idealerweise dauern?

Wie lange ein Pilgerweg geht und darüber, ab wann man ein echter Pilger ist, gibt es vielfältige Meinungen. Meine ist: ich glaube, dass wir alle Pilger sind, denn wir alle gehen ja „unseren Weg“ – mal schöner, mal unschöner, mal alleine, mal in Gesellschaft, mal fliegen Zeit und Landschaft vorbei, mal ist es mühsam und zäh, mal fordert es uns körperlich, mal mental, mal emotional, mal brauchen wir Halt, mal schenken wir welchen, mal wissen wir, wo es lang geht, mal suchen wir danach, mal gehen wir in der Sonne, mal im Schatten und mal im Regen und mal stehen wir im Saft und mal gibt es Durststrecken – im wahrsten Sinne des Wortes, auf Pilgerschaft wie im Leben.

Es braucht also keinen Jakobsweg, um all das zu entdecken oder erleben. Ich glaube allerdings, dass die Bereitschaft und Hingabe sich beispielhaft auf einen „echten“ Jakobsweg zu machen, ein riesengroßes Geschenk an den eigenen Lebensweg ist – inklusive all der Magie und der Geschenke, die dort zusätzlich stattfinden und für uns bereitliegen. Wenn man bereit ist.

„Genau diese Bereitschaft nimmt dir der Weg ab. Du musst dich „nur“ auf ihn machen und die ersten Schritte gehen. Also wie im echten Leben.“

Was das Gedankenkarussell und die Hamsterräder angeht, in denen wir stecken, kann ich sagen, dass ich das Gehen grundsätzlich enorm hilfreich finde und es auch im Coaching nahezu immer, aber auch konkret zu bestimmten Prozessen und Übungen empfehle. Bewegung und Flexibilität, Ausdauer und Kraft, auch Schnelligkeit und unsere Regenerationsfähigkeit – also unsere klassischen physischen Grundfertigkeiten – übertragen sich, wenn wir diese schulen, auf unseren Geist und nähren unsere psychische Resilienz. Ob durch zügiges Spazierengehen, Joggen, Yoga, Wandern, Surfen oder allen anderen „Natur-Sportarten“. Und das Gehen auf einem Jakobsweg hat mitunter das größte Potenzial, das ich in dieser Hinsicht bisher kennen lernen durfte.

Sonnenaufgang Igrexa de Santo Estevo de Cos. Foto: Lisa Stangier
Sonnenaufgang Igrexa de Santo Estevo de Cos. Foto: Lisa Stangier

In unserer Gesellschaft der vielen Dinge und der ständigen Ablenkung ist es nicht immer einfach, sich auf das zu besinnen, was wirklich wesentlich ist. Manchmal verlaufen wir uns und finden den Weg nicht mehr. Wie kann man den Fokus wieder erlangen? Und wie gelingt die richtige Balance auch längerfristig?

Auch hier schenkt der Weg auf sehr schlichte Art und Weise tiefgreifende Erkenntnisse: Weniger ist mehr. Jeder noch so lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Um tief zufrieden und glücklich zu sein, braucht man weniger, als man denkt. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als einen Schritt nach dem anderen zu machen. Wenn du nicht weißt, wo es langgeht, geh den nächsten Schritt. Der Weg ist das Ziel und „you never walk alone!“ klingt nach ein paar Alltagsfloskeln, die sich aber bewahrheiten und Gelassenheit und Zuversicht geben, wenn man sie sich zu Herzen nimmt und nicht arrogant belächelt oder abtut.

Und: Wir „verlaufen“ uns nicht, wir wählen einen bestimmten Weg oder wählen, stehen zu bleiben. Weil der Weg, der der vermeintliche richtige(re) ist, uns noch zu anstrengend, zu ungewiss, zu neu, zu herausfordernd oder zu ordinär erscheint und uns Mut und eine Ehrlichkeit abverlangt, die schmerzhaft und unprätentiös sein kann. Ablenkung, übermäßige Geschäftigkeit und das „Nichtwissen“, was wir tun sollen, sind oft nur dankbare Ausreden, sich nicht bewegen zu müssen oder zu können.

„Dabei gibt es nur eine einzige Möglichkeit, herauszufinden, welcher mein Weg ist: Ich muss mindestens einen Schritt in diese Richtung gehen.“

Und dann gegebenenfalls noch einen und noch einen. Bis ich die Zeichen sehe. Dann wähle ich wieder: Gehe ich weiter, gehe ich zurück, biege ich woanders ab. Aber gehen muss ich, das nimmt mir auf meinem Weg niemand ab. Oftmals sehen wir auch Zeichen, ob wir sie (für) wahrnehmen wollen, ist die Frage.

Das Schöne ist, man muss nicht warten, bis man durch ein Ereignis auf dem Boden der Tatsachen und auf dem „richtigen“ Weg landet oder vom Leben unsanft in eine bestimmte Richtung geschubst wird. Mit einer Portion Ehrlichkeit, Mut und Bereitschaft zur Reflexion können wir uns alle auf das besinnen, was für uns wesentlich ist, und jederzeit auf unseren Weg machen beziehungsweise zurückkommen, wenn wir uns mal in der Richtung ge- oder verirrt haben. Und worauf es uns wirklich, wirklich ankommt, wissen wir – wenn wir ehrlich sind und mal zur Ruhe kommen.

Lisa Marie, angekommen in Santiago de Compostela. Foto: Lisa Stangier
Lisa Marie, angekommen in Santiago de Compostela. Foto: Lisa Stangier

Kann Gehen dabei helfen, wenn man vor einer „Weggabelung“ steht und eine Entscheidung zu fällen ist? Worauf ist hier zu achten?

Ich glaube ja! Natürlich kann man abwägen und nachdenken, was richtig für einen ist. Man kann verschiedene Möglichkeiten vergleichen, Szenarien durchspielen und Pro’s und Contra’s auflisten. Und es gibt in Sachen Entscheidungsfindung unterschiedliche Herangehensweisen und Menschentypen. Aber wie ich es oben geschildert habe, jede/r kann nur die eigenen Schritte gehen, um zu sehen, ob er oder sie auf dem richtigen Weg ist. Das nimmt dir keine Freundin und auch kein Coach ab – auch wenn das für die vorbereitende Schritte natürlich helfen kann.

Es gibt eine schöne Übung, die ich häufig empfehle, wenn jemand in seiner Entscheidung oder Lösungsfindung feststeckt: Nimm ein Blatt Papier, schreibe darauf den Satz: „Die Lösung für mein Problem ist…“ und dann gehe sofort eine Runde spazieren. Denk bestenfalls gar nicht über dein Problem nach, geh einfach zügig 20-30 Minuten durch die Gegend – wenn du die Möglichkeit hast in die Natur. Wenn du nach Hause zurückkommst, gehe unmittelbar zu deinem Blatt Papier und vervollständigst den Satz – ohne nachzudenken, ohne zu zögern, ohne zu rezensieren. Schreib ehrlich und intuitiv deine Antwort auf. Du wirst staunen!

Am 9. Oktober starten wir mit dem SpaCamp 2023 und du bist hier auch wieder als Moderatorin mit dabei. Vielen Dank! Ein Fokus in diesem Jahr ist das Machen. Hast du da für uns noch 1-2 konkrete Tipps, um in Gang zu kommen?

Ja. Wenn dir der Mut fehlt, wähle den nächsten Schritt einfach kleiner. Unser Gehirn (außer du gehörst zur seltenen Spezies der Visionäre) braucht alles in vorstellbaren, machbaren Häppchen, um in Gang zu kommen. Zweitens: Spiele das Best- und Worst Case deiner Entscheidung oder deines Verhaltens durch, was bestenfalls und auch schlimmstenfalls passieren kann.

Uns bremst oft nur die Angst vor der Ungewissheit. Wenn wir aber wissen, was passieren kann und dafür schon 1-2 Notfallstrategien in der Tasche haben, ist unser Nervensystem beruhigt und wir sind handlungsfähig. Und dazu noch ein Tipp: Spiele auch den Worst Case durch, nämliche diesen, was passiert, wenn du dich nicht entscheidest oder gar nichts änderst und in 5 Jahren alles noch exakt so ist wie jetzt. Auch das kann sehr augenöffnend sein und die innere und äußere Lähmung lösen.

Vielen Dank liebe Lisa Stangier, dass wir an deinen Gedenken zum Losgehen teilhaben dürfen. Wir sehen uns beim SpaCamp im Chiemgau!